J. Diemke (Hrsg.): Forschungen zur Gewalt in der römischen Antike

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Titel
Forschungen zur Gewalt in der römischen Antike.


Herausgeber
Diemke, Justine
Reihe
Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne
Erschienen
Stuttgart 2023: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicole Diersen, Alte Geschichte, Historisches Seminar, Universität Osnabrück

Gewalt nimmt spätestens seit Martin Zimmermanns Forschungen einen bedeutenden Stellenwert in der altertumswissenschaftlichen Forschung ein.1 Justine Diemke schließt mit ihrem Sammelband „Forschungen zur Gewalt in der römischen Antike“, hervorgegangen aus einer im Februar 2020 an der Universität Hamburg stattgefundenen Tagung „Vis omnia vincit? Neue Perspektiven zur Gewalt in der griechisch-römischen Antike“, an diesen Forschungsstrang an. Sie stellt in dem Werk ein breites Spektrum an Beiträgen zusammen – von sexueller Gewalt in Petrons Satyrica über Gewalt im Handel am Roten Meer bis hin zu militärischer Gewalt im und neben dem Kriegsgeschehen. In ihrer Einführung geht Diemke auf die Entwicklung der Gewaltforschung und deren Anschlussfähigkeit an weitere Forschungsfelder wie Emotionsforschung, Sinnesgeschichte, Zeitforschung und Raumforschung ein. Dies lässt das Werk vielversprechend klingen; doch sei vorwegzunehmen, dass die Leserschaft hinsichtlich des Aspekts der Emotionen leicht enttäuscht wird – zu Rosenweins in der Einführung erwähnten Konzepts der emotional communities etwa wird an keiner weiteren Stelle des Bandes Bezug genommen. Teils fehlt es den Beiträgen an einem expliziten Bezug zu Gewalt(konzepten), dennoch liefert der Band wertvolle Anregungen für weitere Studien in der Gewaltforschung. Redaktionell wäre eine weitere Überarbeitung wünschenswert gewesen: Silbentrennung und Umbrüche erschweren teils sehr den Lesefluss, zumal Letzteres wichtige Informationen verbirgt, da ganze Teile von Sätzen schlicht fehlen.2

Konrad Löbcke (S. 35–58) diskutiert in seinem sehr strukturierten und verständlich geschriebenen Vortrag die Verharmlosung sexueller Gewalt, deren Bewertung stark von ihrem Kontext sowie von den beteiligten Personen, deren Verhältnis zueinander und dessen Status abhänge (S. 36). Dies macht Löbcke am Beispiel der Figur des Chaerea, ein junger athenischer Bürger in der Komödie Eunuchus des Terenz, mehr als deutlich (S. 53). Der Mehrwert an Löbckes Beitrag besteht darin, dass er die „literarische Verarbeitung von Vergewaltigungen“ als Teile einer ‚Technik‘ auffasst (S. 37), was er einleuchtend anhand der Vergewaltigung des Giton aus Petrons Satyrica und Vorläufern aus der griechisch-römischen Komödie darlegt. Er identifiziert vier Techniken der Verharmlosung von sexueller Gewalt: 1. Der Bezug zur Frühgeschichte / zum Mythos; 2. Das Rollenspiel, so dass ein sexueller Übergriff zu einem Schauspiel stilisiert wird; 3. Rechtliche und soziale Probleme (Statusabhängigkeit); 4. Thematisierung der Rivalität als Ablenkung vom eigentlichen Problem.

Jean Coert (S. 59–88) befasst sich am Beispiel des C. Cornelius Gallus und M. Lollius mit dem kaiserlichen Freundschaftsentzug (renuntiatio amicitiae), den Augustus als Instrument nutzte, um Anmaßung und Grenzüberschreitung anzuzeigen. Sowohl Gallus als auch Lollius hätten in ihren Provinzen ohne Einwilligung des Kaisers Klientelkönige an ihre Person gebunden, was zum Vertrauensbruch geführt habe. Aufgrund seines erschaffenen Akzeptanzsystems gegenüber den Senatoren musste Augustus diese daraufhin davon überzeugen, dass er nicht willkürlich Strafen erließ. Auch wenn der Freundschaftsentzug der Form nach, wie Coert formuliert, keine Gewalt sei (S. 61; 82), so würde derartiges Verhalten seitens des Princeps psychischen Druck evozieren, wie etwa die Suizide von Gallus und Lollius belegen. Hier hätte Coert den Zusammenhang zwischen Freundschaftsentzug und Gewalt stärker herausarbeiten können, was leider erst im Fazit thematisiert wird. Teils wirkt der Beitrag redundant; einschlägige Forschungsliteratur fehlt.3

Jens Fischer (S. 89–104) betrachtet die Entwicklung unheilvoller Prophezeiungen des Sibyllinischen Orakels von Republik- (Krisenzeit) zu früher Kaiserzeit (Friedenszeit). Im Gegensatz zu Vergils paradiesischer Vorstellung über die Sibyllen zeichnet Lukan ein völlig gegensätzliches Bild, das Angst und Unsicherheit verbreite. Fischer beschäftigt sich mit der Wirkung derartiger Prophezeiungen auf die Menschen (S. 91). Das Auftreten unheilvoller Orakel sei untrennbar mit gewalttätigen Konfrontationen verbunden. In augusteischer Zeit wandele sich diese Vorstellung: Von einem Weltbild voller Schrecken kehre man in eine Friedenszeit. Ungeachtet der Quellenkritik (dazu siehe unten) ist fraglich, inwiefern Augustus nicht selbst dabei mitwirkte, diese Friedenszeit über die Abwesenheit der sybillinischen Orakel einzuläuten. Es stellt sich die Frage, ob nicht vielmehr die Bücher selbst eine Krise evozierten und nicht umgekehrt, die Bücher erst in Krisenzeiten hervorgeholt werden.

Eine für Kaufleute besonders gefährliche Region scheint das Rote Meer und die östliche Wüste gewesen zu sein. Troy Wilkinson (S. 105–132) arbeitet anhand der Forschungsliteratur, vor allem gestützt auf Hélène Cuvigny und von ihr bereits aufbereiteten Ostraka, heraus, welche (reale) Gefahr, meist in Form von Überfällen, von Wüstenbewohnern wie Banditen, den barbaroi und Piraten für Reisende durch diese Regionen ausging – Piraterie, bereits seit Ptolemäerzeit, und Banditentum waren wachsende Probleme während des 2. Jahrhunderts n. Chr. Er geht in seiner quantitativ basierten Studie auf die römische militärische Präsenz zur Bekämpfung dieser Gefahren in diesen Gebieten ein (Häfen, Flotte, Orte wie Berenike als ‚key locations‘, Goldminen und Steinbrüche) und wie die Sicherheit durch die praesidia für die Reisenden gewährleistet wurde. Eine von ihm identifizierte geringe militärische Präsenz erklärt er damit, dass private Wachen im Einsatz waren.

Anlehnend an René Girard4 und Walter Burkert5, die sich mit Gewalt in antiken Opferriten hinsichtlich aufklärerischer, moralischer Deutungen befassen, untersucht Katharina Angelberger die Dynamiken (Aitiologie) von Gewalt in Werken augusteischer Autoren (S. 132–159). Ausgehend von ordnungsbewahrenden und ordnungstransformierenden Gewaltvorstellungen in der Antike (S. 135), geht Angelberger am Beispiel des Turnus aus Vergils Aeneis auf Rollenverschiebungen ein: Es lasse sich eine Dynamik von der Ebene des Sichtbaren zu einer Ebene des unsichtbaren Chaos erkennen (S. 145). Erst durch Mangel entstehe Kultur. Diese werde durch Gewalt geschützt. Angelberger arbeitet überzeugend heraus, dass gemäß antiker Vorstellung Gewalt als positiv galt (produktive Gewalt). Angelberger zeigt deutlich anhand literarischer Beispiele wie Properz, Livius und Sueton die untrennbare Verbindung von Ordnung und Gewalt.

Es folgen Beiträge zur Gewalt im militärischen Kontext. Den Anfang mach Hendrik A. Wagner (S. 161–191). Er deutet den Topos der Anthropophagie (Kannibalismus) als eine grenzüberschreitende Form von Gewalt, als universellen Tabubruch (S. 161) am Beispiel der Eroberung Sagunts 291 v. Chr., welche als exemplum Sagunt in der Plünderung Roms im Jahre 410 n. Chr. ihre Aktualisierung fand. Er fragt nach der Bedeutung des Kannibalismusmotivs und dessen Funktion in Literatur und Historiographie (S. 162). Nicht entscheidend sei, ob tatsächlich Kannibalismus stattgefunden habe, sondern „wieso die antiken Autoren dieses drastische Gewaltbild überhaupt überliefert“ haben (S. 185). Das Kannibalismusmotiv gelte in der Historiographie als Element der epischen Geschichtsschreibung, zugleich markiere es die Grenze zwischen der Zivilisation und der Wildnis (Bedrohungsbild) (S. 165). Der Kannibalismus könne als Metapher der Sitten- und Sozialkritik interpretiert werden (S. 183). Wagner arbeitet seine Argumente vor dem Hintergrund der Toposforschung überzeugend und methodisch einwandfrei heraus.

Florian Wieninger konzentriert sich auf militärische Gewaltakte in der Kaiserzeit (S. 193–223). Diese würden mit Plünderungsprozessen einhergehen (S. 194). Plünderung sei ein unkoordiniertes Gewaltszenario und gemäß Adam Ziolkowski6 kein systematisches Vorgehen. Diese These versucht Wieninger zu widerlegen. Für sein Vorhaben stellt er erstmalig in diesem Sammelwerk methodisch-theoretische und definitorische Vorüberlegungen zum Untersuchungsgegenstand der Gewalt an; er modifiziert ein Modell aus der Militärgeschichtsforschung zur Neuzeit, um es auf die Verhältnisse der antiken Kriegsführung zu übertragen (S. 196f.). Er bearbeitet systematisch drei Kategorien: Intention; Situation; Struktur. Durch den bellum iustum-Gedanken seien Plünderungshandlungen als legitim anzusehen, zeigen gerade dadurch jedoch die extremen Konsequenzen für die Bevölkerung einer eroberten Stadt (S. 204). Wieninger überzeugt mit seiner strukturierten Vorgehensweise, wenn auch die Auswahl und Zusammenstellung der Fallbeispiele – von Polybios bis Cremona – nicht immer stringent miteinander vergleichbar ist. Schließlich folgten Plünderungen einer systematischen Logik und einem ökonomischen Kalkül, wenngleich emotionale Aspekte einspielten, die das individuelle Moment ausmachten.

Gabriel Baker (S. 225–248) fragt am Beispiel scheinbar eher unbedeutender Kriege am Rand der römischen Welt – Jugurthinischer Krieg, 112–105 v. Chr. und Lusitanischer Krieg, 155–138 v. Chr. nach den Motiven für Massaker, Versklavung und Zerstörung von Städten. Eine derartige Strategie sei nicht nur Ausdruck von Rache und Frustration, sondern auch kalkulierte militärische Strategie und Antwort auf das Verhalten der Feinde (S. 226), wenn eine direkte Konfrontation oder Unterwerfung nicht möglich sei und somit ein schneller Erfolg ausblieb. Doch sei dies noch lange keine Garantie für einen römischen Sieg, wie er am Beispiel des Viriathus zeigt. Dazu bespricht Baker die verschiedenen Taktiken der Feinde („hit-and-run tactics“), die für Angst in Rom sorgen. Dies führe zu einer Verlagerung der römischen Taktik, deren Motive er in einem weiteren Schritt herausarbeitet. Bakers Lesart der Quellen überzeugt: Er bespricht die Narrative und wägt die verschiedenen Versionen ab (etwa S. 231). Ferner ist besonders positiv der von ihm explizierte Bezug zu Emotionen hervorzuheben.

In ihrem Beitrag beschäftigt sich Christina Kecht (S. 249–274) mit dem äußerst modernen Konzept des Genozids, zu dem bis heute eine einheitliche Definition fehle (S. 249f.). Nach einer detaillierten Skizzierung des Konzepts und genozidaler Analysestrukturen, arbeitet Kecht die Behandlung von am Rande einer Schlacht beteiligte Personen heraus (S. 252; 256). Als Quellengrundlage wählt sie Caesars Bericht über den Gallischen Krieg, Tacitus sowie Ammianus Marcellinus, um einen geographisch und zeitlich großen Radius zu erlangen (S. 251). Bestimmte Massaker seien „genozidale Rhetorik“ (S. 262), während andere Massenverbrechen der Realität zugeordnet werden. Nicht ganz eindeutig ist hier die methodische Trennung zwischen Realität und Rhetorik sowie die damit zusammenhängende Argumentation. Kecht springt somit zwischen einer dem historischen Realismus nahen sowie einer narrativen Lesart. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Genozid in der römischen Kaiserzeit „in seiner absolut tödlichen Bedeutung“ eine Ausnahme dargestellt habe, während er in seiner „unblutigen Form“, vor allem auch als Gewaltmigration, häufiger angewandt wurde (S. 266).

Alles in allem liefert der Band einen sehr guten und breiten Einblick in das Thema Gewalt in der römischen Antike, wenngleich viele Aspekte noch stark verschleiert bleiben. Gerade der zu Beginn und im Ausblick angeführte Zusammenhang zwischen Gewalt und Emotionen wird komplett vermisst. Erst im Schlusswort fasst Diemke (S. 275–279) alle Beiträge aus emotionsgeschichtlicher Perspektive zusammen. Fischer etwa geht kaum auf den Zusammenhang zwischen Gewalt und Emotionen ein, wenngleich sein Beitrag hinsichtlich unheilvoller Prophezeiungen zu Angst und Verunsicherung sogar enormes Potential liefert. Auch Wilkinson, der von „physical, emotional and psychological violence“ (S. 107) spricht, geht nicht weiter auf diese Aspekte ein, während Kecht hinsichtlich des Genozids gar einen Unterschied zwischen Rationalität und Emotionen sehen will (S. 256). Einzig Wagner und Baker zeigen einen klaren Zusammenhang zwischen Gewalt und Emotionen.

Auch wird selten auf die Gewalt an sich eingegangen, wie es etwa bei Coert und Wieninger geschieht. So bleibt auch nach der Lektüre der Beiträge undeutlich, wie der Begriff der Gewalt für viele der vorliegenden Untersuchungen verstanden werden kann und inwiefern eine Übertragung moderner Denkweisen des Begriffs auf die Antike möglich ist. In quellenkritischer Hinsicht weisen mehrere Beiträge deutliche Schwächen auf, wie etwa bei Fischer, der aus kaiserzeitlichen Quellen (Lukan) typisch republikanische Phänomene herauslesen will (S. 97). Wieninger geht zwar gezielt auf die schwierige Quellenlage ein: Er kommt zu dem Schluss, dass die historiographische Überlieferung als einziger konsistenter Quellenbestand für die Rekonstruktion des Ablaufs von gewaltsamen Städteeroberungen bleibe (S. 198). Dieser Ansatz ist jedoch kritisch zu betrachten, denn dies gilt wohl für die Identifikation eines Narrativs, nicht aber für die Rekonstruktion des Ablaufs. Anders dagegen Baker, der die Aussagen in den Quellen als Narrative betrachtet, sowie Wagners Beitrag, der die Einnahme Sagunts als Konstrukt der römischen Kriegspropaganda ansieht.

Insgesamt zeigt der Band – und das war ungeachtet der kritischen Einschätzung die Intention Diemkes (S. 24; 279), die sie somit voll und ganz erfüllt hat –, welch enormes Potential bislang noch unbeachtet in den Quellen zur Antike schlummert und dass Geschichten zu Gewalt und Emotionen noch geschrieben werden sowie in der Forschungslandschaft noch viel stärker beachtet werden müssen. Dazu bietet der Band, vor allem mit den einleitenden Worten zu den verschiedenen Forschungsfeldern eine sehr gute und vielseitige Grundlage.

Anmerkungen:
1 Martin Zimmermann, Gewalt. Die dunkle Seite der Antike, München 2013.
2 Belege für Probleme bei Silbentrennung besonders auffallend auf S. 47; 138; 179; gravierender jedoch die Probleme bei den Umbrüchen, als Beispiel lediglich S. 80/81 für Auslassungen: „M. / Kronprinz Gaius Caesar, der um sein Vorrecht und anscheinend auch um eine opulente Summe beraubt wurde, […]“; S. 96/97; für Doppelungen: „[…] dass auch die besagten Orakel von der Bevölkerung wahrgenommen wurden bzw. in dieser zirkulierten. Von / Bevölkerung wahrgenommen wurden bzw. in dieser zirkulierten. Von entscheidender Bedeutung […]; S. 269/270 Fußnotentext.
3 Etwa Angela Ganter, Was die römische Welt zusammenhält. Patron-Klient-Verhältnisse zwischen Cicero und Cyprian, Berlin 2015.
4 René Girard, Das Heilige und die Gewalt, 2. überarb. Aufl., Ostfildern 2012 (1. Aufl. Frankfurt am Main 1994).
5 Walter Burkert, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin 1997.
6 Adam Ziolkowski, Urbs direpta, or how the Romans sacked cities, in: John Rich / Graham Shipley (Hrsg.), War and Society in the Roman World, London 1993, S. 69–91.

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